Szeemann reloaded
Kunstwerke - auch auf der aktuellen Biennale in Venedig - stehen mehr oder weniger in der Tradition eines zugewiesenen Kunstbegriffes. Für einige Zweige der Gegenwartskunst wichtige Begriffe sind in den 60er erdacht worden, die die Loslösung einer jungen Künstlergeneration von den Traditionen der herrschenden Kunst etikettierten.
Wagen wir einen Versuch und blättern 44 Jahre in der Kunstgeschichte zurück: Wir schreiben das Jahr 1969! Harald Szeemann eröffnet eine Ausstellung in der Berner Kunsthalle mit dem sperrigen Titel “Wenn Attitüden Form werden. Werke - Konzepte - Vorgänge - Situationen - Informationen”. In seinem Vorwort bezeichnet er seine Ausstellung als “seltsam uneinheitlich und kompliziert” und stellt darauf die Frage, ob das mit der Reaktion auf die “übermächtige Geometrie” der letzten Jahre zu tun hat. Er gelangt zur Einsicht, dass die junge Künstlergeneration sich mehr dem physischen und dem schöpferischen “Ich” zuwendet und verweist auf die Überwindung der Grenzen, die zwischen Atelier, Galerie und Museum gezogen worden sind. Weiters stellt er fest, dass die Wahl des Materials aus dem “Erlebnis des künstlerischen Vorganges” entsteht. So ist das Fehlen eines Vorbildes hinsichtlich der Wahl und Anwendung des Materials wesentlich für neue Kunstrichtungen, wie “Arte povera”, “Concept Art” oder “Earth Art”.
Zurück in die Gegenwart: Die Fondazione Prada wagt eine Rekonstruktion dieser o.g. Ausstellung in ihrem Palazzo aus dem 18. Jahrhundert am Canal Grande in Venedig. Kuratiert wird die Ausstellung “When Attitudes Become Form: Bern 1969/Venice 2013” von Germano Celant und sie wird unterstützt von Thomas Demand und Rem Koolhaas, dem die riskante Aufgabe zuteil wurde, die Ausstellungsflächen der Berner Kunsthalle im Ca´Corner della Regina zu rekonstruieren. Dieses Unterfangen birgt mögliche Missverständnisse zwischen Schau und Besucher aber lässt auch Entdeckungen zu. Zum Beispiel wie Kunstwerke im Vergleich zu damals in Beziehungen zueinander treten, oder welchen Einfluss der rekonstruierte Raum auf die Objekte ausübt. Die Böden sind mit Folien, die das Parkett und die Steinfliesen der Berner Kunsthalle abbilden, beklebt (Foto). Wände stehen in mehreren Etagen des Palazzos dort, wo sie die Räume abgrenzen sollen, welche damals die Ausstellung in der Berner Kunsthalle umfangen hatten. Daraus läßt sich ablesen, dass die damalige Ausstellungspraxis unbefangener und unmittelbarer war als heute.
Im Mittelpunkt der Ausstellung stehen, trotz der großen Leistungen einer Rekonstruktion, die Werke von den Über-Übermütter und -vätern der aktuellen Gegenwartskunst: Giovanni Anselmo, Joseph Beuys, Hanne Darboven, Eva Hesse, Edward Kienholz, Mario Merz, Bruce Nauman, Claes Oldenburg, Friederick Lane Sandback, Richard Serra, Gilberto Zorio... und diese Aufzählung ist nicht vollständig.
Germano Celant, der den Begriff “Arte povera” 1967 prägte, rekonstruierte die Schau mit originalen Werken und Kopien. Beuys Tonbandmaschine spielte beispielsweise nicht das akustische Werk “Ja Ja Ja Ja Ja Nee Nee Nee Nee Nee” ab, sondern den Ton besorgte eine versteckte digitale Schallquelle (Foto). Die künstlerische Unterstützung leistet der deutsche Fotograf und Skulpteur von lebensgroßen Papiermodellen, Thomas Demand. Markierungen und Archivfotos findet man an manchen Stellen dort, wo das Werk fehlt. Im Erdgeschoss finden sich unzählige Dokumente und Briefwechsel, die Einblicke in die Entstehung der Ausstellung gewähren. Unter anderem auch ein Bogen Papier, worauf sehr ungelenk die Entwürfe für das Ausstellungsplakat (Foto) hingezeichnet sind.
Nun stellt sich die Frage: Welchen Beitrag kann eine rekonstruierte Ausstellungen für die Praxis leisten? Und welchen Stellenwert soll sie in Zukunft einnehmen, wenn diese Ausstellung Schule macht? Benötigen Kunststudenten Lehrbeispiele dieser Art? Sollen sich künftige Kuratoren über Rekonstruktionen vergangener Ausstellungen als neue Disziplin heranwagen?
Sobald man die Schau und danach die vom Kanal wegführende enge Gasse hinter sich lässt, glaubt man, eine Zeitmaschine verlassen zu haben. Man spürte den Puls der Geschichte und fand sich im Einklang einer epochalen Künstlergeneration, die weit über den 2. WK hinaus zurückblicken musste, um eine “Form” oder “Geste” der Kunst mit Vorbildcharakter wiederzufinden. Die heutigen KünstlerInnen haben den Blick zurück noch nicht gewagt aber der würde sich lohnen!
Fondazione Prada
Ca´Corner della Regina
1. Juni bis 3. November 2013
Calle de Ca´Corner
Santa Croce 2215
30135 Venezia
Die kulturredaktion.at dankt der Fondazione Prada (Mailand) und der Bibliothek mumok (Wien) für das Zustandekommen des Artikels!
Credits
Abbildungen oben:
© Andreas Herok